Sehnsucht nach dem Leben

Der bedeutende französische Moralphilosoph Vladimir Jankélévitch wird endlich in Deutschland entdeckt

Von Iris Radisch

Wie ist es möglich, dass wir von ihm so lange nichts gewusst haben? Warum mussten wir auf den 31. August 2003, den 100. Geburtstag dieses großen Moralphilosophen warten, um zum ersten Mal Auszüge aus seinen Schriften auf Deutsch in den Händen zu halten? Während doch sonst nahezu alles übersetzt wurde, was zwischen dem Café Les deux Magots und dem Café Flore im 20. Jahrhundert zu Papier gebracht wurde. Hunderte von Briefen, in denen Simone de Beauvoir ihren Jean Paul an der Front über die erotischen Intimitäten ihres Schullebens und den Kauf von Haarbändern auf dem Laufenden hält. Und – bis vor wenigen Monaten – keine Zeile Jankélévitch.

Der lebte vier Jahrzehnte lang nur ein paar Meter entfernt von den philosphischen Ikonen seiner Zeit in seiner buchüberladenen Wohnung mit Blick auf die Seine. Nein, nicht auf der Rive gauche, wie es sich gehörte, sondern auf einem Eiland, das zu seiner Isolation gut passte und das dennoch das Herz Frankreichs ist – die Île de la Cité, im Haus Nr. 1 am Quai aux Fleurs, gleich hinter Notre-Dame. Ein zurückgezogenes Gelehrtenleben, morgens Vorlesungen an der Sorbonne, abends Klavierspiel, vor dem Krieg Schubert, nach dem Krieg lieber Satie.

Als er 1985, im Alter von 82 Jahren, in seiner Wohnung starb, war er auch in Frankreich wenig geachtet. Ein postum veröffentlichtes Interview in der Libération, in dem er Sartre angriff, der im besetzten Paris publizierte und aufgeführt wurde, erklärt seine Lage zwischen den Pariser Fronten. Jankélévitch, Sohn russischer Einwanderer, die vor dem Antisemitismus in ihrer Heimatstadt Odessa in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, war gegen jede auch noch so moderate Art der Kollaboration gefeit. Sein Vater war ein gebildeter Arzt, der mit Freud korrespondierte und ihn ins Französische übersetzte. Jankélévitch studiert an der École Normale, promoviert über Schelling, unterrichtet bis 1932 an der Prager Universität, erhält 1938 eine Professur in Lille, die er 1940 verliert. Danach sitzt er nicht mit Heidegger auf den Knien und dem Besatzungsoffizier Ernst Jünger am Nachbartisch im Pariser Kaffeehaus, sondern schließt sich in Toulouse der Résistance an.

Die Bücher, die er in dieser Zeit schreibt, heißen Das Missverständnis, Von der Lüge, Von der Einfachheit. Sie sind beeinflusst von Henri Bergson und Georg Simmel, inspiriert von seinem Lehrer Léon Brunschvicg. Und sie unterscheiden sich scharf von der Schulphilosophie des intellektuellen Establishments: Sie sind subjektiv und rigoros. Beinahe literarisch.

Die Philosophen unserer Zeit vergessen den Ernst der Existenz

Nie versucht Jankélévitch moralische Urteile zu begründen, sie an eine Kategorie, einen Begriff des Seins, egal ob an oder an und für sich, anzuleinen. Die Philosophie ist ihm keine Sache des Bestimmens, sondern eine Frage des Lebens. Des inneren Lebens eines Menschen, der zu nichts nütze ist, wenn inneres und äußeres Leben nicht schon vor dem Tod für ein paar Augenblicke zusammenfinden.

Es ist dieses freihändige, der eigenen Empfindung und Anschauung vertrauende Denken, das ihn heute – da kategoriale Abhandlungen über das Sein und das Nichts außerhalb des philosophischen Seminars wenig Zuspruch finden – so ungemein lesbar und modern macht. Zumal seine Schriften über den Tod, über die Lüge, über die Liebe in einer brillanten Tradition französischer Essayistik stehen, die schon immer von genialen Außenseitern geschrieben wurde, heißen sie Montaigne, Pascal oder Roland Barthes. Der Absolutismus eines Denkens, das sich ganz auf sich selbst verlässt, die Unbedingtheit seines moralischen Urteils haben Jankélévitch jedoch vereinsamen lassen. Er verurteilte das akademische Milieu seiner Zeit, „diese modernen Doktoren der Zweideutigkeit und die Freuden der Unbestimmbarkeit, die sie uns auftischen“. Das Leben und der Tod sind ihm zu ernst, um sie im Labyrinth sich spiegelnder Begrifflichkeiten aufs Spiel zu setzen.

In dem Eröffnungsaufsatz über den Lebensphilosophen Georg Simmel spricht Jankélévitch von der „Tragödie unserer Kultur“, die das innere Leben, zu dem unser Abendland keinen Kontakt mehr hat, nur noch um den Preis des Mystizismus wiedererlangen kann. Der romantischen Inspiration, der Sehnsucht nach dem unverstellten Leben, die er bei Meister Eckehart, in der Reformation und selbst noch in den „anthroposophischen Schamlosigkeiten Rudolf Steiners“ wiedererkennt, ist er verbunden. Und kennt ihre Gefahren: „Durch einen metaphysischen Widerspruch, der ein regelrechter Selbstmord ist, erzeugt das geistige Leben selbst die festen Formen, die es ersticken werden; beängstigend und wirklich dramatisch an diesem Selbstmord ist, daß er unausweichlich ist.“

Es ist eine melancholische Philosophie, die aus den für die deutsche Übersetzung ausgewählten Werkfragmenten spricht. Den „Ernst der Existenz“, für den zu leben es lohnt, sieht Jankélévitch unter einem Redeschwall aus philosophischen und sozialen Unverbindlichkeiten begraben. Die Wahrhaftigkeit wird den Annehmlichkeiten des Gesellschaftslebens geopfert. Die Menschen sind im Wesentlichen „gefühllos, engherzig, steif“. Und selbst die Liebe hinkt sich selbst hinterher, noch die tiefsten Liebesabenteuer leiden an der unaufhebbaren Ungleichzeitigkeit der beiden Liebenden: Nie können sie sich „in einer einzigen Gegenwart und in einem einzigen Jetzt gegenseitig bewußt werden“. Die Seele findet auf Erden kein Kleid. Von Worten gar nicht zu reden. Allenfalls von Tönen. Und das auch nur, solange sie nicht aus Deutschland kommen.

Warum sollte man Deutschland verzeihen? Weil seine Verbrechen inzwischen ein paar Jahre zurückliegen? Weil andere andere Verbrechen begangen haben? Jankélévitch hat sich gegen jede Debatte über die deutschen Verbrechen verwahrt. Jedes Kolloquium, jeder Vergleich, gestern mit Stalin, heute mit Saddam, ist nur Rhetorik und verkleinert das Ungeheuerliche. Er hat Deutschland nicht verziehen. Auch den Deutschen nicht: „Die Nachkommen der Henker sind gut gelaunt, und sie finden es ganz natürlich, als wenn nichts gewesen wäre, in lärmenden Scharen durch dieses Europa zu ziehen, das ihre Armeen unlängst verwüsteten.“ Er hat nach 1940 Deutschland, die deutsche Kultur, die deutsche Sprache von seiner inneren Landkarte entfernt. Zum Glück. Jean Améry, sein Bruder im Geist, der das nicht vermochte, hat das Leiden an den deutschen Verbrechen das Leben gekostet. Doch der Schmerz ist der Schlüssel zu seinen Arbeiten: „Ich fühle die Verpflichtung, in mir die Leiden, die mir erspart geblieben sind, zu verlängern.“

Ein Fluchtpunkt, ein Merksatz, den man sich in den Mantelsaum einnähen könnte, ist in diesem Werk nicht zu entdecken. Allenfalls der Appell, nach dem Herzen zu gehen. Und nicht nach den tausenderlei Rück- und Hinsichten der Epoche. Denn spätestens in der Stunde des Todes werden sie alle hinfällig. Deswegen ist diese dem Leben hingegebene Philosophie in letzter Konsequenz ein Denken zum Tode. In dem Gesprächsband Kann man den Tod denken? wird deutlich, warum es nur der Tod sein kann, dem sich das Leben verdankt: Sein Unsinn fordert den Sinn heraus.

Vielleicht, hat Jankélévitch einmal über sich gesagt, sei er ein Denker des 21. Jahrhunderts. Es sieht ganz danach aus, als hätte er Recht gehabt.

 

 

Vladimir Jankélévitch:

Das Verzeihen

Essays zur Moral und Kulturphilosophie; aus dem Französischen von Claudia Brede- Konersmann; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003,; 296 S. 29,90

 

Kann man den Tod denken?

Gespräche; aus dem Französischen von Jürgen Brankel; Verlag Turia & Kant, Wien 2003; 127 S., 10,–

(c) DIE ZEIT 28.08.2003 Nr.36